Bennys Weihnachten- Monika Klemmstein
Bennys Weihnachten Monika Klemmstein
Mein letztes Weihnachtsfest liegt schon einige Jahre zurück. Genau genommen vier Jahre. Die Erinnerungen an die Feste davor verblassen mehr und mehr. Doch ich arbeite daran, wieder Sinn in dem Fest der Geburt Jesu zu suchen. Ich versuche, allmählich wieder den Glanz früherer Jahre in diese Tage zu bringen. Ich bemühe mich für Benjamin und für Manfred. Die letzten drei Jahre bekam Benjamin Geschenke zu Weihnachten. Natürlich. Die vergangenen zwei Jahre stand auch ein Weihnachtsbaum im Wohnzimmer. Bunt geschmückt mit vielen Kugeln und Kerzen. Manfred ging an den Nachmittagen des Heiligabends auch mit Benjamin in die Kirche zum Krippenspiel. Doch mehr konnte ich Benjamin nicht geben. Es war fast schon zu viel. Zu viel für mich.
Ich habe diese letzten drei Weihnachtsfeste nicht erlebt, ich habe sie erlitten.
Gehaßt hab ich mich dafür, wenn ich mich nicht mit Benjamin freuen konnte. Der kleine Kerl zeigte mir stolz die Strohsterne, die er im Kindergarten gebastelt hatte. Mit glänzenden Augen erzählte er mir von der Weihnachtsfeier im Kindergarten.
Alle Eltern waren da. Bloß ich nicht.
Ich nahm den kleinen Knirps ganz fest in meine Arme. Nur nicht wieder weinen. Tränen hatte er genug gesehen.
Benjamin ist sieben Jahre und hat die letzten drei Jahre seines Lebens eine schwere Last auf seinen zarten Schultern getragen. Er schleppte zwar nicht die ganze Last der Welt, doch er trug mein Leid. Und das war schwerer für ihn.
Dieses Jahr sollte es anders werden. Ganz fest hab' ich's mir vorgenommen. Aber woher soll ich nur die Kraft nehmen? Hilf mir Herr!
Es geschah an einem Mittwoch vor dem dritten Advent vor drei Jahren. Ich wartete schon seit einer halben Stunde mit dem Mittagessen auf Daniel. Die Zeit schlich langsam voran. Immer öfter blickte ich auf die Uhr über der Küchentür. Inzwischen waren die Kartoffeln kalt geworden. Über den Pudding,den es zum Nachtisch geben sollte, zog sich eine dünne, feine Hautschicht.
Viertel nach zwei inzwischen. Wo Daniel nur blieb. Um eins hätte er zu Hause sein müssen. Bestimmt war er noch mit seinem Freund im Kaufhof, um nach Weihnachtsgeschenken zu suchen. Im Radio lief leise Weihnachtsmusik. Ein Knabenchor sang "Oh du fröhliche, oh du selige...".
Benni, der das erste Jahr in den Kindergarten ging, hatte schon zu Mittag gegessen und machte in seinem Zimmer sein Mittagschläfchen. Ich wartete auf Daniel. Hunger hatte ich längst nicht mehr. Ob er sich vielleicht verletzt hatte im Sportunterricht? Doch dann hätte mich Herr Klein, der Sportlehrer, sicherlich benachrichtigt.
So gegen drei Uhr wachte Benjamin auf. Gedankenverloren wärmte ich ihm einen Becher Kakao. Benni wollte Lego mit mir spielen. Doch als er merkte, daß ich mich nicht auf das gemeinsame Spiel konzentrieren konnte, tapste er beleidigt mit einem Bilderbuch unter dem Arm in sein Zimmer.
Um halb vier klingelte es. Fast schüchtern hörte es sich an. Ich zögerte einen Augenblick, dann ging ich zur Tür.
"Das wurde ja auch Zeit, Daniel", dachte ich erleichtert, als ich auf den Summer drückte.
Doch das waren nicht die leichten Schritte meines Sohnes, die die Treppe hochkamen. Um meinen Hals legte sich ein enger Ring, als zwei Polizisten vor mir standen. Der jüngere von ihnen drehte nervös seine Mütze zwischen den Händen hin und her. Der ältere begrüßte mich:
"Frau Beckmann? Guten Tag. Sie sind doch Frau Beckmann? - Dürfen wir einen Moment hereinkommen?"
"Was ist mit Daniel?" fragte ich tonlos.
Benjamin kam aus seinem Zimmer und klammerte sich an meine Beine.
"Tja, Frau Beckmann. Es tut mir leid. Daniel ist in der Klinik. Er kommt auf die Intensivstation. Sie sollten sofort hinfahren. Hören Sie, Frau Beckmann!" Der Polizist schaute mich aus gütigen Augen an. "Können wir ihren Mann benachrichtigen? Wir fahren sie am besten gleich in die Klinik."
Nachdem wir Manfred in der Firma angerufen hatten, brachte ich Benjamin zu meiner Nachbarin. Die Fahrt in die Klinik schien endlos. Manfred und ich trafen gleichzeitig am Klinikportal ein. Stumm umarmten wir uns.
Mein Mann fragte die Polizeibeamten, was denn eigentlich passiert sei. Merkwürdig, warum hatte ich nicht daran gedacht, zu fragen. Ich wußte nur, er liegt auf der Intensivstation. Erst hier erfuhr ich in kurzen, knappen Worten, daß Daniel beim Umsteigen an einer Haltestelle von einer Straßenbahn überfahren worden war. Es war die Linie 7.
Vor der Intensivstation hielt uns eine Schwester zurück:
"Augenblick bitte, der Doktor kommt sofort."
Im gleichen Moment kam auch schon ein Arzt auf uns zu. Er legte behutsam eine Hand auf meine Schulter und sprach leise:
"Es tut mir leid. Wir konnten nichts mehr für ihn tun. Ihr Sohn verstarb auf dem Weg in unser Krankenhaus."
Ich wollte schreien, doch aus meinem offenen Mund kam kein Ton. Hilflos blickte ich in Manfreds versteinertes Gesicht.
Am Mittwoch nach dem dritten Advent trugen wir unseren Sohn Daniel zu Grabe. Mit ihm legte ich auch ein Stück von mir mit in die Erde. Ich hab mal gelesen: "Wenn deine Eltern sterben, stirbt deine Vergangenheit. Wenn dein Kind stirbt, stirbt deine Zukunft". Wieviel Wahres liegt darin.
Unser Daniel, ein hoffnungsvoller Sohn. Vierzehn Jahre war er, ging auf das Gymnasium. Was hatte er für Pläne. Abitur wollte er machen, studieren, am liebsten Architektur. Und ein sportlicher Junge war er. Im Schwimmverband schwamm er im Kader mit. Seine Pokale und Medaillen zierten eine ganze Wand in seinem Zimmer. Alles vorbei. Alle Träume, all unsere Hoffnung, all unsere Liebe, unsere gemeinsame Zukunft - gestorben unter den Rädern der Linie 7.
Und jetzt steht wieder Weihnachten vor der Tür. Das vierte Weihnachtsfest nach Daniels Tod. Richtig - nach Daniels Tod! Und nicht nach Benjamins Tod. Benni lebt doch noch. Er ist nicht mit seinem Bruder gestorben. Wenngleich es Benjamin bestimmt auch all die Jahre anders erlebt hat.
Vor kurzem habe ich ein Gespräch mit anhören müssen. Ein Gespräch zwischen Benjamin und seinem Freund Oliver. Beide spielten in Benjamins Zimmer. Mein Junge sprach sehr leise:
"Du, Olli, ich glaube, mich gibt's gar nicht mehr. Jedenfalls sieht sie mich kaum. Sie denkt nur an Daniel. Und jetzt vor Weihnachten ist es wieder ganz besonders schlimm."
"Wie meinst du das Benni?"
"Ich weiß auch nicht so genau. Wenn der liebe Gott das machen könnte, dann wünschte ich, ich wäre jetzt da, wo Daniel ist und er wäre hier. Dann könnte sie vielleicht auch mal wieder lachen. Dann hätte sie vielleicht auch mal wieder Weihnachten."
Ich hielt die Luft an. Meine Augen brannten vor ungeweinten Tränen. Das erste Mal seit Daniels Tod sollten diese Tränen nicht um Daniel sein.
Was hab ich meinem Sohn, meinem Benjamin, nur angetan?
Seine flüsternde Stimme drang an mein Ohr. Ich war nicht fähig, meinen Lauschposten aufzugeben. So sehr litt also mein Kleiner.
"Weißt du Olli, früher wurden hier im Haus Weihnachtslieder gesungen. Das ist schon Ewigkeiten her. Und Plätzchen backt mir meine Oma. Bestimmt hätten meine Eltern auch lieber getauscht. Man könnte ja vielleicht machen, daß ein Jahr ich hier bin und ein Jahr der Daniel. Gestern nacht hab ich darum gebetet. Doch Gott hört mich ja auch nicht."
Aber ich habe es gehört. Und ich bin endlich aufgewacht.
Heute ist Heiligabend. Sicher, es tut noch weh, doch ich lerne, damit umzugehen. Ich lasse Daniel wieder mitten unter uns sein, wenn wir Weihnachten feiern. W i r lassen Daniel unter uns sein. Wir, das sind mein Mann Manfred, mein Sohn Benjamin und ich. Benjamin hat ein Recht zu leben und nicht im Schatten seines toten Bruders zu stehen. Benjamin starb Stück für Stück mit seinem Bruder Daniel. Das durfte ich nicht länger zulassen. Ich durfte meine Trauer nicht länger auf Benjamins Schultern legen. Ihn außen vor lassen. Wir hätten all die Jahre gemeinsam trauern müssen. Den Abschied gemeinsam durchstehen sollen. So hab' ich's allein versucht und Benni hat es nicht verstanden.
Wir sind am Nachmittag auf den Friedhof gegangen und haben mit Daniel gesprochen. Eine kleine Kerze brennt auf seinem Grab. Wir drei anderen haben uns an den Händen gehalten und gesungen: "Stille Nacht,heilige Nacht..."
Ich werde auch heute Nacht mit in die Kirche gehen. "Oh du fröhliche, oh du selige" werde ich nicht mitsingen. Es ist noch keine selige Weihnachtund eine fröhliche erst recht nicht. Doch meine Söhne werden uns helfen, daß dieses behutsame, ängstliche, vorsichtig ausgepackte Weihnachtsfest wieder ein fröhliches werden kann. Monika A. E. Klemmstein
Dezember 1999
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